
KONTEXTUELLE RAUM IM VORDERASIATISCHEN NEOLITHIKUM: DIE ENTWICKLUNG DER LEHMARCHITEKTUR, DIE..
By THOMAS JOHANNES PIESBERGEN
Subjects: Antiquities, Excavations (archaeology), middle east, Prehistoric Architecture, Neolithic period, Space (architecture)
Description: Die bisherigen Untersuchungen bezüglich der kulturellen Bedeutung des architektonisch geordneten Raums blieben entweder oberflächlich oder in ihrer Perspektive stark eingeschränkt. Ziel dieser Arbeit ist es, diese Forschungslücke zu schließen und den architektonischen Raum als unabhängige Quelle zur Rekonstruktion kultureller Sachverhalte nutzbar zu machen. Zunächst werden anhand von ethnographischen Quellen die formalen Aspekte der Lehmarchitektur untersucht, also die bautechnischen Vorgänge, ihre sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen, die funktionalen Eigenschaften verschiedener Konstruktionsweisen und der Bau- und Siedlungsformen sowie deren Identifizierung im archäologischen Befund. Nach einer eingehenden Diskussion verschiedener theoretischer Perspektiven und methodischer Ansätze bezüglich der Interpretation der kulturellen Aspekte des Raums erfolgt anhand ethnologischer Quellen eine Modellbildung zum Verhältnis der Sozio-Ökonomie und der kosmologischen Vorstellungen zum architektonischen Raum. Schwerpunkt des sozio-ökonomischen Modells ist das Verhältnis zwischen Haushalt und Kommune. Das kosmologisch-habituelle Modell hingegen beschreibt die Entwicklung vom unsegmentierten, egalitären Kreis zum differenzierten, hierarchisch geordneten, orthogonalen Welt- und Wohnraum. In der anschließenden quantitativen, archäologisch-geographischen Untersuchung auf breiter Datenbasis werden die Zusammenhänge und Wechselwirkungen der formalen Aspekte der Lehmarchitektur mit den sozio-ökonomischen und kosmologischen Organisationsprinzipien in ihrer chronologischen und geographischen Verbreitung beleuchtet. Auf eine Diskussion der Umwelteinflüsse auf diesen Komplex folgt eine Hypothesenbildung und schließlich eine qualitative Überprüfung der Hypothese anhand ausgewählter Fundorte. Abschließend kann festgestellt werden, daß die Entwicklung der Lehmarchitektur durch ein Netzwerk von ideologischen, sozio-ökonomischen und umweltabhängigen Einflüssen bedingt wird, das durch ständige Wechselwirkungen und Rückkoppelungen all seiner Bestandteile gekennzeichnet ist, dessen kulturelle Aspekte aber am unmittelbarsten auf die Architektur einwirken. Die in der Arbeit entwickelte holistische Architekturanalyse bietet ein entsprechend nützliches Mittel zur Rekonstruktion prähistorischer Gesellschaften. Sie erschließt der Forschung sozio-kulturelle Bereiche, auf die andere Quellengattungen bisher keinen Zugriff erlaubten. Für den untersuchten Zeitabschnitt, von der Seßhaftwerdung bis zu dem Beginn der Hochkulturen des Nahen Ostens, können vor allem zwei gesellschaftliche Organisationsprinzipien (das kommunalistische und das individualistische Prinzip) herausgearbeitet werden, die sich in der vorderasiatischen Vorgeschichte gegenüberstehen. Dadurch gelingt es Th. Piesbergen z.B. leichtfertige Postulate privilegierter Klassen im frühneolithischen Südost-Anatolien zu wiederlegen. Darüber hinaus bietet die holistische Architekturanalyse eine aussagekräftige Ergänzung der konventionellen Kulturzuweisung anhand von Keramikformen und anderen Kleinfundgattungen. Besonders in vorkeramischer Zeit können mit ihrer Hilfe Kulturgruppen, die bislang nur schwer voneinander unterschieden werden konnten, identifiziert werden, wie z.B. die dem PPN-B Kontext zugehörige „Euphrat Gruppe“ in Obermesopotamien. Schließlich wird der Begriff des „kontextuellen Raums“ als ein neuer Terminus in die Archäologie und Kulturanthropologie eingeführt. Er bezeichnet die in Architektur manifestierte Schnittmenge der technischen, sozio-ökonomischen, ideellen und ökologischen Domäne, die nur durch eine holistische und interdisziplinäre Perspektive erfasst und beschrieben werden kann.
Comments
You must log in to leave comments.